[nlat.] das (Reifeprüfung, Matura, Maturität), Abschluss der gymnasialen Oberstufe. Das A. als Befähigungsnachweis für ein Hochschulstudium wurde 1788 in Preußen an den humanist. Gymnasien eigeführt. […]
Quelle:
Das Lexikon, Zeitverlag, ISBN Band 1: 3-41117561-3
Nachwort:
Und wie stolz waren wir auf diese preußische Abitur-Erfindung und auf die Schulen, an denen man das Abitur erwerben konnte! Wenn die Disziplin zu wünschen übrig ließ, höre ich den einen oder anderen meiner Lehrer noch ausrufen: “Meine Herrschaften, wir befinden uns hier in einem humanistischen Gymnasium und nicht in einem Zirkus!“ Auf Disziplin wurde Wert gelegt. Wenn ich heute Schüler frage, was ihnen an der Schule nicht gefällt, erhalte ich nie zur Antwort, es sei die ihnen abverlangte Disziplin. Oft höre ich dagegen: Mir gefällt nicht, dass es immer laut und chaotisch ist. Jeder macht, was er will. Die Lehrer können sich nicht durchsetzen. So kann man nichts lernen. Und das ist keine Ausrede, sondern Fakt und die tägliche Realität an vielen, wenn auch glücklicherweise nicht allen Schulen.
Mehr als das oben im Kästchen stehende wollte ich aus dem Lexikon-Eintrag nicht zitieren, denn hier zeigt sich, wie schnell ein gedrucktes Lexikon von den Ereignissen überholt wird, wenn z.B. davon die Rede ist, dass eine Angleichung der i.d.R. 13-jährigen an die 12-jährige Schulzeit in den neuen Bundesländern bzw. in anderen europ. Staaten diskutiert wird. Es wird nicht mehr diskutiert, es wird umgesetzt. Am 15. August begann in Berlin das erste Schuljahr, in dem parallel Schüler der 12. und 13. Klassen das Abitur ablegen werden. Die Berliner Schulen befinden sich im zweiten Jahr in Folge auf Platz 16, also an letzter Stelle der Tabelle leistungsfähiger Schulen. Ein ungewöhnlicher Ansturm auf die Hochschulen im nächsten Jahr wird prognostiziert, und das gewonnene Jahr könnte für viele ein Jahr des Wartens auf einen Studienplatz sein.
Das Zeit-Lexikon hat eine Besonderheit, die andere Enzyklopädien nicht aufzuweisen haben: Jede Band enthält im Anhang Das Beste aus der ZEIT zu ausgewählten Stichwörtern dieses Bandes, und Abitur ist so ein Stichwort. Das Geschriebene wurde von den Ereignissen überholt, gibt aber gerade deshalb zu denken, denn es beweist, wie lange schon sich mahnende Stimmen erheben, während in der Bildungspolitik nach wie vor die Reformen vielleicht die Wahlpopularität erhöhen, den eigentlich Zweck aber verfehlen, junge Menschen mit einer soliden Allgemeinbildung und sicheren Beherrschung der elementaren Kulturtechniken aus der Schule zu entlassen. Und fühlt sich für Charakterbildung überhaupt noch jemand zuständig?
Mit der Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre hat das Saarland eine Vorreiterrolle übernommen. […]
Doch was da mit Modernisierungsgetöse ins Werk gesetzt wird nicht nur das Saarland, nahezu alle Bundesländer experimentieren mit dem Schnellabitur -, befördert vor allem das Auseinanderfallen von bildungspolitischer Rhetorik und bildungspraktischer Wirklichkeit […] weil die Kultusministerien Unterrichtsausfall in skandalösen Ausmaßen dulden […] weil im Zuge der inneren Schulreform immer mehr solides Bildungswissen gegen die weichen Inhalte gegenstandloser Methodenlehre, unterhaltsamer Projekte und eines undefinierbaren vertiefenden Unterrichts ausgetauscht worden sind.
Die jüngsten Ergebnisse der Timms-Studie belegen die Rückstände der deutschen Schüler in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, und viele Hochschullehrer klagen zu Recht über Defizite in kulturellen Basistechniken wie Lesen und Schreiben. […]
Begabten Kindern stand immer schon die Möglichkeit offen, eine Klasse zu überspringen oder eine vorgezogene Abiturprüfung abzulegen. Das war freilich die Ausnahme, und solche Kandidaten galten, vermutlich zu Recht, als Elite: als besonders leistungsfähige, interessierte, belastbare Schüler eben. Wie viele davon mag es geben? […]In der aktuellen Debatte über die Aufgaben der Schule spielen vermeintlich romantische Erziehungsziele wie geistige Reife, Persönlichkeit, Charakter und Urteilsvermögen kaum noch eine Rolle oder sind zu Teamfähigkeit, Sozialkompetenz und ähnlichen Schlüsselqualifikationen degeneriert, die ihre Besitzer für den Einsatz in der modernen Marktgesellschaft zurichten sollen. […]
Auch fällt es schwer zu verstehen, warum sich ausgerechnet aus der Dauer des Schulbesuchs so gravierende Nachteile für deutsche Gymnasiasten ergeben sollen. […] Zeit sinnlos totgeschlagen haben die meisten von ihnen eher nicht auf dem Gymnasium, sondern an der Universität: mit dem Warten auf Bücher und Praktika, auf Prüfungstermine beim Professor und Bescheide in Stipendienangelegenheiten, mit zeitraubenden Fachrichtungswechseln, die sich bei einer guten Beratung zu Beginn des Studiums vielleicht hätten vermeiden lassen.
Eine Reform der Studienorganisation an den höchst individualistisch agierenden Hochschulen ist freilich eine zähe, mühselige Aufgabe, die politisch lange nicht so tatkräftig wirkt wie das Schnellabitur. […]aus: Die Verachtung der Langsamkeit. Turbo-Abitur: Unsere Gymnasien brauchen nicht weniger, sondern mehr Unterricht, um Defizite auf vielen Wissensgebieten auszugleichen von Susanne Gaschke, 30. November 2000
Nun, das Kind ist in den Brunnen gefallen und wird schon nicht ersaufen, sondern schlimmstenfalls als Pechmarie wieder zum Vorschein kommen.
20. August 2011 at 19:34
Wann werden es endlich die massgebenden Personen in der modernen europäischen Pädagogik wahrnehmen können, was Du über Disziplin schreibst? Mir geht es hier genauso; meine Schüler sagen: in Ihrem Unterricht kann man lernen und sich einfach erholen, es ist ruhig und jeder weiß, was da zu tun ist. Mal warten, vielleicht liest uns doch jemand…? 😉
Hier gibt es übrigens eine Reifeprüfung, das Abitur (auf Polnisch: matura) zu Ende einer Oberschule. Gymnasiasten sind 12-15 Jahre alt. Vorher gibt es nur eine Grundschule (6 Jahre).
20. August 2011 at 20:26
Einen interessanten Artikel zur „schulischen Disziplin“ gibt es bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Schulische_Disziplin
Am Kopf der Seite wird darauf hingewiesen, dass die „Neutralität dieses Artikels umstritten“ ist. Am spannendsten finde ich den Hinweis auf Stanley Milgrams beunruhigende Gehorsamexperimente. Ich denke sehr wohl, dass die Einsicht in die Notwendigkeit von Disziplin vorhanden ist, ebenso aber auch die Angst, Kinder könnten für den Einfluss gefährlicher Autoritäten zu empfänglich werden und blinden Gehorsam leisten. In Deutschland ist diese Angst besonders verständlich, fand ihren besonderen Ausdruck in der 68er-Bewegung, und ein gesundes Verhältnis zur Disziplin konnte sich bislang nicht etablieren. Warum ist der goldene Mittelweg nur so schwer zu gehen?
21. August 2011 at 17:25
Wo es übrigens nicht sooo kompliziert ist: Eltern und Lehrern gehorchen und respektieren (in berechtigten Fällen eine Diskussion möglich; nicht wie unter Partnern natürlich), möglichst auch lieben oder mögen. Fremde neutral behandeln, in keine direkten Kontakte kommen. Von Eltern und Lehrern muss man auch schon was verlangen können: dass sie vor allem glaubwürdig sind. Und keinen Weichler wird ein Kind oder Jugendlicher für glaubwürdig halten wollen. Junge Leute ahnen in einer Sekunde, wen sie als eine Autorität anerkennen wollen – und sie wollen es sehr, sehnen sich danach.
Und dass ein Fremder, sowie ein Elternteil oder Lehrer, mal einen Fehler begeht oder gar zum Verbrecher wird – das läßt sich leider nie so ganz ausschließen.
21. August 2011 at 18:54
Ja, für Dich und mich ist es überhaupt nicht kompliziert, sondern selbstverständlich. Aber vielleicht ist es gerade diese Selbstverständlichkeit, die uns nicht begreifen lässt, warum es für andere (Eltern, Lehrer…) durchaus nicht selbstverständlich ist – als fehle ihnen ein Gen, ein Enzym, was weiß ich. Na. vielleicht findet die Wissenschaft es noch heraus und entwickelt dann die Erziehungspille oder schickt die Leute in eine Erziehungskur. 😉