„Der Geliebte der Mutter“ handelt von der unerwiderten lebenslangen Liebe Claras zu dem berühmten Dirigenten Edwin, aufgezeichnet von ihrem Sohn. Es ist zugleich ein Roman über das Geld und die Macht, über die Umkehr der Verhältnisse und über das 20. Jahrhundert.

Diogenes

Die letzten Seiten habe ich gelesen, während ich diesen Eintrag vorbereitete.

In den Romanen „Der Geliebte der Mutter“ und „Das Buch des Vaters“ hat Urs Widmer die Biografien seiner Eltern aufgeschrieben, was auch bedeutet, dass er von der Begegnung der Eltern bis zum Tod des Vaters dieselbe Geschichte erzählt, die doch eine ganz andere zu sein scheint, denn er erzählt sie aus verschiedenen Blickwinkeln.

Ich habe die Bücher in der falschen Reihenfolge gelesen – zumindest, was ihre Entstehung angeht, denn das von mir zuerst gelesene „Buch des Vaters“ erschien drei Jahre nach dem von mir danach gelesenen. Für mich, denke ich, hat sich die Reihenfolge dennoch als richtig erwiesen. Sie funktionierte wie eine Enträtselung. Die Tragödie des Lebens dieser Mutter, die im Buch des Vaters nur klar zutage tritt, als sie einen schweren Nervenzusammenbruch erleidet und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden muss, wobei die Ursache nicht wirklich verständlich wird, erklärt sich in „Der Geliebte der Mutter“ in packender Weise, was vor allem daran liegt, dass Widmer sich – abstinent von jeglicher Sentimentalität – auf eindringliche Bilder und Szenen beschränkt – ein stilistisches Mittel, das beiden Büchern gemeinsam ist. Im Buch der Mutter kommt der Vater praktisch nicht vor – ist nicht mehr als eben einer der Männer, die im Mai 1945 aus dem Krieg heimkehren – in einen Frieden, von dem die Mutter sagt, dass sie ihn nun zu bestehen habe, was ihr auch gelingt, bis sie sich 1987 aus dem Fenster ihres im sechsten Stock gelegenen Zimmers eines Heims für alte Menschen stürzt. Nur einen Zettel lässt sie zurück. Ich kann nicht mehr. Lebt weiter und lacht. Clara.

Hat man das eine Buch gelesen, sollte man das andere unbedingt auch lesen, denn erst dadurch erschließt sich das Drama in seiner ganzen Bedeutung und ringt dem Leser jenen Respekt ab, der nicht nur dem herausragenden Autor gilt, sondern auch dem Menschen, auf den das Schicksal der Eltern eine traumatisierende Wirkung gehabt haben muss und der dieses Trauma mit solcher Klarheit verarbeitet.

Am Ende des Buches schildert Widmer seine Begegnung mit jenem Edwin:

„Ich bin der Sohn von Clara“, sagte ich.
„Von wem?“ Er sah weiterhin das als Schiff verkleidete Krokodil an.
„Von Clara“ – ich nannte ihren Namen von damals – „Molinari.“
Er wandte sich mir zu. „Clara Molinari?“ sagte er. „Der Name ist mir im Augenblick nicht geläufig. Ich treffe so viele Menschen.“
„Ich bitte Sie!“ rief ich, jäh erregt. „Clara war das erste Ehrenmitglied Ihres Orchesters! Das werden Sie doch wohl noch wissen!“
Edwin schlug eine Hand gegen seine Stirn und rief: „Aber natürlich! Die gute alte Clara. Wie geht’s ihr denn so?“
„Sie ist tot.“
„Ja.“ Er nickte. „Das sind wir alle jetzt immer häufiger.“
Er wies mit einer großen, den ganzen Saal umfassenden Bewegung auf Männerhaus, Stier und Krokodileinbaum. „Hochinteressante Kultur. Sehr komplexes, äußerst effizientes Verwandtschaftsgeflecht. Patrilinear, aber mit einer starken Dominanz der Frauen.“ Er faßte nach seinem Halstuch und rückte es zurecht.
„Wieso haben Sie Clara keine Orchideen mehr geschickt?“ sagte ich.
„Orchideen?“
„Ja. Mit einem Kärtchen. Violette Tinte. Alles Gute, E. Ich sehe sie noch vor mir, Ihre Schrift, wie heute.“
„Diese Dinge laufen bei mir über das Sekretariat.“ Edwin hob bedauernd die Schultern. „Wahrscheinlich hat eine neue Sekretärin die Agenda ausgemistet.“
Ich nickte. Ja. Das war eine plausible Erklärung. Ich schwieg. Auch Edwin schien von dem Gespräch genug zu haben, denn er eilte quer durch den Saal zu einer Vitrine voller dämonischer Schweine- und Hundeköpfe.
„Noch etwas“, rief ich, als er drüben angekommen war.
„Warum haben Sie Clara gezwungen, ihr Kind abzutreiben. Ihr Kind?“
„Wer hat Ihnen denn das erzählt?“ Zwischen ihm und mir lagen jetzt zwanzig oder auch dreißig Meter Parkett, und seine Stimme dröhnte. „Ich zwinge keine Frauen zu nichts. Nie. Ich habe vier Kinder. Und ich bin den Müttern gegenüber immer großzügig gewesen. Äußerst großzügig.“
Ich ging zu ihm hin, schnell, mit Schritten, die wie Gewehrschüsse knallten. Ich wollte ihn, kann sein, ohrfeigen oder zwischen die Beine treten oder wenigstens anschreien. „Ich habe alle ihre Konzerte gehört“, sagte ich statt dessen, als ich bei ihm angelangt war. „All die Bartóks, oder den Idomenio von damals. Liebermann! Hartmann! Zimmermann! Wunderbar.“ Allenfalls meine Stimme – sie war so laut und fast so hoch wie die meiner Mutter – verriet, daß meine rechte Hand, mein rechter Fuß immer noch zuckten und zitterten. – Nun lächelte er. Atmete ein, atmete aus. Ja, er strahlte regelrecht. „Übermorgen“, sagte er, „habe ich ein Konzert. Ligeti, Bartók, Beck. Kommen Sie, kommen Sie doch!“ Er gab mir einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange, wandte sich ab und ging mit schnellen, sicheren Schritten zum Ausgang hin. Verschwand im Schwarz der Tür, und ich wollte mich eben den Schweine- und Hundemasken zuwenden, als er nochmals auftauchte, mit einem vor Vergnügen roten Gesicht. „Wenn Ihre Geschichte stimmen würde …“ rief er kichernd. „Da wären Sie ja mein Sohn!“ Er hob beide Arme und ließ sie wieder fallen. „Pech gehabt, junger Mann.“
Er verschwand so schnell, daß er nicht sah, wie ich mit einem Zeigefinger gegen die Stirn tippte. „Sie meinen wohl, ohne Sie geht gar nichts?!“ brüllte ich. Dann stand ich einfach nur so da und horchte seinen verhallenden Schritten nach. Seinem immer leiseren Gelächter. Eine Tür schlug zu, und es war wieder still. All die Dämonen schwiegen wie seit Jahrhunderten schon. Nur der Stier im Männerhaus, der Ksatyra, schien jetzt zu lachen, so lautlos, so dröhnend, daß auch ich das Museum verließ.

Und das muss man als Leser dann aushalten, dass – Genie hin, Genie her – dieser Widerling ein Leben lang von einer bemerkenswerten Frau geliebt wurde. So wie der Sohn dieser Frau es aushalten musste. Und schließlich ist man froh darüber, dass der Sohn nicht zugeschlagen hat, und – im Nachklang – froh darüber, dass man froh darüber ist.

Urs Widmer
Der Geliebte der Mutter
Diogenes Verlag, Zürich, 2000
ISBN 978-3257062458