Kennt ihr die Weidendammer Brücke? Kennt ihr sie am Abend, wenn unterm dunklen Himmel ringsum die Lichtreklamen schimmern? Die Fassaden der Komischen Oper und des Admiralspalastes sind mit hellen Schaukästen und bunter Leuchtschrift bestreut. An einem anderen Giebel, jenseits der Spree zappelt in tausend Glühbirnen die Reklame für ein bekanntes Waschmittel, man sieht einen riesigen Kessel, der Wasserdampf steigt empor, ein blütenweißes Hemd erhebt sich wie ein freundlicher Geist, eine ganze bunte Bilderserie läuft ab. Und dahinter, über den Häusern des Schiffbauerdamms, glänzt der Giebel des Großen Schauspielhauses. Autobusse rollen in Kolonnen über den Brückenbogen. Im Hintergrund erhebt sich der Bahnhof Friedrichstraße. Hochbahnen fahren über die Stadt hin, die Fenster der Züge sind erleuchtet, und die Wagen gleiten wie schillernde Schlangen in die Nacht. Manchmal ist der Himmel rosa vom Widerschein des vielen Lichts, das unter ihm strahlt.
Berlin ist schön, hier besonders, an dieser Brücke, und abends am meisten! Die Autos drängen die Friedrichstraße hinauf. Die Lampen und die Scheinwerfer blitzen, und auf den Fußsteigen schieben sich die Menschen vorwärts. Die Züge pfeifen, die Autobusse rattern, die Autos hupen, die Menschen reden und lachen. Kinder, das ist ein Leben!
Erich Kästner
Pünktchen und Anton
Oetinger Taschenbuch, Sonderausgabe, April 2011
ISBN 978-3-7915-3014-7
3. April 2011 at 19:10
Schön beschrieben… Auch ohne das Bild würde man den Eidruck bekommen, das alles zu sehen, zu hören und zu spüren.
3. April 2011 at 19:48
Kästner hat „Pünktchen und Anton“ 1931 geschrieben, das Foto stammt aus dem Jahr 1959. Mir hat gefallen, dass da die fewa-Reklame noch drauf ist, obwohl die Brücke 28 Jahre später so glitzernd, wie Kästner sie beschrieben hat, nicht mehr war. Was er aber eingefangen hat, ist ein Berliner Lebensgefühl, das man auch 1959, zumindest im Westteil der Stadt, noch erfahren konnte: Kinder, das ist ein Leben!
In Kästners Geschichte, hat die Brücke eine gute und eine schlechte Seite. Auf der guten Seite steht das Fabrikantenkind Pünktchen und wird von ihrem eine Blinde mimenden Kinderfräulein zum Betteln angehalten. Auf der schlechten Seite verkauft Anton Schnürsenkel, um Essen für sich und seine kranke Mutter kaufen zu können. C’est la vie.