Prometheus

Reinhold Begas: Der gefesselte Prometheus, 1901/02 – Foto: James Steakley, 2006

Das Gebäude der Akademie der Künste am Pariser Platz ist zugleich ein öffentlicher Durchgang – nur in den Nachstunden geschlossen. Während des Tages dient er vor allem den Touristen – ob vereinzelt oder in Gruppen – als Abkürzung vom Brandenburger Tor am Pariser Platz zum Mahnmal an der Behrenstraße. So kann man schneller zwei der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt in kurzer Zeit auf der Besichtigungsliste „abhaken“, und ich habe tatsächlich beobachtet, dass manche Touristen dies im wörtlichen Sinne tun. Reinhold Begas‘ „gefesseltem Prometheus“ gilt auf dem Abkürzungsweg meistens nur ein flüchtiger Blick. Das Mitgefühl mit Griechen in misslicher Lage hält sich – länderübergreifen – in Grenzen. Mir dagegen versetzt es jedes Mal einen kleinen Stich, selbst wenn ich nicht hinschaue, selbst wenn ich versuche nicht darüber nachzudenken. Er wollte den Menschen doch nur einen brennenden Wunsch erfüllen. Er hätte es vermutlich auch getan, wenn er gewusst hätte, dass er sie dadurch in die Lage versetzte, eines Tages Sehenswürdigkeiten auf Besichtigungslisten abzuhaken.

Von Prometheus berichten vier Sagen:

Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.

Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.

Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.

Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.

Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.

Franz Kafka
aus „Beim Bau der Chinesischen Mauer“